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Ich bin Set-Tonmeister. Ich kümmere mich im wesentlichen darum, dass man versteht, was Leute im Kino oder Fernsehen sprechen. Schauspielerversteher… in etwa.

Wenn man uns lässt und wir unsere Arbeit gut machen (die Schauspieler, meine Mitarbeiter und ich), müssen meine Freunde nicht ins Synchronstudio und die Emotion, die sie beim Drehen verkörpert haben, bleibt akustisch im fertigen Film erhalten. Ich entschuldige mich jetzt gar nicht bei den Synchronstudios, mein Job ist einfach, ihnen die Arbeit wegzunehmen.

Ich sage immer, Film-Tonmeister sind innerhalb der allgemeinen Tonmeisterei so etwas wie die Zahnärzte in der Medizin. Keiner mag Zahnärzte, sie fahren fette Autos, sind 2 x geschieden, haben eine Villa in Klosterneuburg und einen grottenschlechten Musikgeschmack. Nein eh, scherz, aber Zahnärzte sind jetzt im Allgemeinbewusstsein nicht sooo die Sympathieträger.

Zahnärzte sind Spezialisten, von denen die meisten ihren Job gut können. Wenn man einen Herzinfarkt hat, sollte man damit nicht zum Zahnarzt gehen. Auch nicht zum Tonmeister übrigens, obwohl ich Mitte der 80er Jahre wirklich umfassend in erster Hilfe ausgebildet wurde. Aber wenn sich, wie bei mir voriges Jahr, der Weisheitszahn meldet, sollte man besser bald zum Zahnarzt, eher als zum Internisten, auch wenn gerade ein Internist vor Ort ist. Und wenn man verstehen will, was Schauspieler im Kino sagen, sollte man einen Set-Tonmeister beschäftigen und keinen Musiker.

Zahnärzte werden nicht berühmt, dafür verdienen sie gut. Auch Set-Tonmeister haben beim Berühmt werden sehr begrenzte Möglichkeiten. Und ich kenne im Ernst Ton- Kollegen, die haben wirklich eine Villa. Wie sie das finanziell machen, weiss ich leider nicht. Trotzdem gefällt mir mein Vergleich. Denn wenn Zahnärzte arbeiten, tun sie anderen weh, und gefühlt ist das ist bei uns Tonmeistern auch so, … warum eigentlich?
Dafür gibt es mehrere Erklärungsmodelle. Am Set arbeiten zum Beispiel alle für das Bild, nur die Tonis wollen nicht mitspielen und kochen ihre eigene Suppe. Und damit sie überhaupt was sinnvolles aufnehmen können, nehmen sie den anderen den Spass weg und wollen dass immer alles ruhig ist. Sehr ruhig. Klinisch ruhig. Am besten keiner bewegt sich mehr und alle ziehen die Schuhe aus.

Aber zurück zu den Zahnärzten: Ein bisschen unterstell ich nämlich, dass Zahnärzte technikfixiert sind, zumindest sind sie stolz auf das High Tech in der Praxis. Und Tonmeister beim Film? Äh…

Zahnärzte kennen ihre Klienten eher kurz, dafür intensiv. Es ist eigentlich ein privater Übergriff, einem fremden Menschen in den Mund zu greifen, dann schreit er vielleicht und man sieht auf jeden Fall seine Angst und den Schmerz. Das geht nur mit einer gehörigen Portion Diskretion und Vertrauen auf beiden Seiten. Genauso privat ist es, einem Schauspieler ein Funkmikrofon anzulegen, der sich dazu vor dir entblössen muss, sich bei der Aufnahme auf die Emotion in seiner Stimme zu konzentrieren und ihm hinterher, wenn er vergessen hat, dass er verkabelt ist, theoretisch privat weiter zuhören zu können. Auch das hat mit gegenseitigem Vertrauen zu tun und erfordert professionelle Diskretion.

Voriges Jahr am Filmset hat mein Weisheitszahn rechts unten begonnen weh zu tun. Ich war fünf mal in der einen Woche beim Zahnarzt, am Feiertag, spät abends und am Wochenende. Er war Rumäne, 2 x geschieden, hatte vermutlich keine Villa, aber ich konnte ihm vertrauen. Und mein Weisheitszahn ist weg, seitdem bin ich schmerzfrei. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.


Ich halte das Credo des Originaltons hoch, damit die Zwischentöne, die Zartheit, die Wucht und die sexy Unsauberkeiten der menschlichen Stimmen im Film erhalten bleiben. Stimmen machen Stimmung und die kommt aus der Szene.

Ich mag authentische Filme, die unmittelbar daherkommen, die glaubwürdig sind und echte Emotion erahnen lassen. Dafür braucht es Energie, die sich aus der Präsenz der Schauspieler nährt, ihrer Verbindung mit der Umgebung, ihrer Wahrnehmung, hier und jetzt.

Sowohl am Set als auch auf der Leinwand: Ich schätze das. Und ich nehme zwar Ton auf, aber ich SEHE es, wenn die Energie da ist. Diese Energie wächst gut in in freier Emotion, unkontrolliertem Dialog, wo das Timing spontan ist und alle durcheinander reden, wo der Moment plötzlich minimale Lautstärke ergeben kann, hin geschluderte Wörter oder Brüllerei. Leben halt.

OK, technisch gesehen ist, was ich gerade beschreibe, ein worst-case Szenario für Originalton. Der braucht die einzelnen Silben, Wörter und Sätze sauber, einzeln von einander trennbar, jedes für sich dynamisch und kraftvoll frei stehend, damit sie im Schnitt, wo die Szene ihren Rhythmus erhält, neu zusammengesetzt werden können. Alle Geräusche, die einander bei der Aufnahme chaotisch überlagert haben, können in der Postproduktion nicht mehr voneinander getrennt, sprich nicht mehr verwendet werden. Damit Originalton bearbeitbar bleibt,  braucht er bei der Aufnahme kontrollierte Bedingungen.

Aber: Was ist dann noch sexy, wenn beim Drehen alles kontrolliert werden muss?

In diesem Spannungsfeld bewege ich mich als Tonmeister und treffe Entscheidungen. Versuche so viel wie möglich von der Energie des Sets zu erhalten und trotzdem die Verwendbarkeit des Tons zu gewährleisten. Letzteres ist mein Arbeitsauftrag.

kontrollierte Akustik vs. spontanes Agieren, ein Spannungsfeld zwischen Regie und Ton?

Regisseure wissen: Man spürt uns, die Tonmenschen. Ein, zwei, manchmal sogar drei Jungs (Mädels??), die sich die Stellprobe ansehen, sich Blicke zuwerfen, den Schauspielern nahetreten, sie zu irgendwelchen Abkommen überreden, was machen die?

Na bravo der Fussboden, aber denken meine Schauspieler jetzt nur mehr dran, dass sie nicht gleichzeitig gehen und reden sollen?

Um die einzelnen Töne „sauber“ und bearbeitbar aufzunehmen, versuchen wir Tonleute zunächst mal, alle unerwünschten Geräusche aus der Aufnahme zu verbannen: Wir ölen Türflügel, stellen Motoren ab, schließen die Fenster und legen Teppiche auf, damit die Schrittgeräusche den Text nicht überlagern. Wir schalten die Klimaanlage und den Kühlschrank aus und verhandeln mit der Aufnahmeleitung über Straßensperren.

Aber wir fordern auch manchmal von den SchauspielerInnen Kontrolle, in Form von „Schnittpausen“, von unterdrückten Reaktionen, Trennung von Sprechen und geräuschvollem Handeln, einer Forderung nach Mindestlautstärke im Dialog oder speziell akzentuierten Wörtern.

Wir nötigen sie, so zu tun, als wären ihre Aktionen vollkommen spontan, obwohl sie während des Spiels daran denken müssen, es für den Ton bitte so und nicht anders zu machen.

Lieber Regisseur, liebe Regisseurin, als Tonmeister übernehme ich hier Verantwortung dafür, dass Du den Ton dieser Szene verwenden kannst, jener Szene, der Du und die Schauspieler gerade Leben einhauchen. Eben um dieses Leben geht es, es soll auch akustisch soweit wie möglich bestehen bleiben. Wie viel von der Unmittelbarkeit der Szene überträgt sich über die menschlichen Stimmen?

3%? Oder eher 30%? Oder vielleicht sogar 83%?

It depends. Es hängt vom Moment ab. In einer Sekunde wird die Ausdruckskraft klar vom Originalton getragen, wenn er die Geschichte transportiert sowohl im Narrativen als auch in der Emotion. In der nächsten Sekunde, wenn die Äußerung gefallen ist, erzählen die Augen in der stummen Reaktion die Geschichte. Beide Momente zusammen bewirken den Eindruck deines Films. Es muss darum gehen, auf beiden Ebenen, im Bild wie im Ton, die eindrücklichste, lebendigste und rundeste Performance aufzuzeichnen und für die Montage des Films nutzbar zu machen.

Ich interveniere dort, wo ich überzeugt bin, dass es Deinen Film befördert und greife auf andere Möglichkeiten zurück, wenn eine Intervention für den Originalton in meiner Einschätzung einen zu hohen Preis hat. Spontanes einander ins Wort fallen schränkt die Möglichkeiten des Schnitts ein, hilft aber oft der Performance und kann ein gangbarer Weg sein, wenn Bild- und Tonschnitt an einem Strang ziehen. Wenn das Warten auf eine ruhige Gelegenheit die Energie zermürbt, können kurze Sätze und Reaktionen auch hinterher an einem ruhigeren Ort nachgesprochen werden, ohne dass man dabei die Energie des Spiels verlieren muss. Man muss die Nachsprecher nur genauso ernsthaft betreiben, wie das Spiel vor laufender Kamera. Auch das Austauschen einzelner Sätze aus besser funktionierenden Setups kann unter bestimmten Bedingungen ein Weg sein. Und schließlich: gekonntes Nachsprechen im Synchronstudio ist ein Weg, der gilt, nur zwingt er der Performance der Schauspieler noch viel mehr Einschränkungen auf, als jede Tonintervention am Set.

Es ist hilfreich, wenn Dir als RegisseurIn bewußt ist, auf welches Element Deines Films es gerade ankommt und Du uns im besten Fall Deine Gedanken auch mitteilst:

Sie soll das ganz leise sagen. Ich möchte es aber trotzdem gut verstehen.

Dann können wir z.b für diesen Satz die Fenster des Autos schließen, die 2. Kamera nicht in der Totalen mitlaufen lassen oder den Lärm der randalierenden Menge für diesen Moment verstummen lassen.

Du meinst, wir lassen die Fenster offen und der Fahrtwind wäre ein super natürliches Hintergrundgeräusch?

Der Hund mit der Psychoakustik

Du triffst als RegisseurIn am Set Entscheidungen in schneller Reihenfolge. Viele davon haben Auswirkungen auf das Klangbild Deines Films. Fahren wir im Auto mit offenem Fenster? Drehen wir den Gegenschnitt dazu auf der Übersiedlung zum nächsten Motiv (Strasse mit Kopfsteinpflaster) oder am Originalschauplatz des ersten Setups (wo zufällig eine Asphaltstrasse war)? Ist diese Wiese (neben dem rauschenden Bach) ein geeignetes Motiv für unsere Szene? ...

Irgendwo im Hinterkopf weißt Du um die Auswirkungen Deiner Entscheidungen auf den Originalton. Die Verantwortung dafür macht Deine Aufgaben nicht leichter. 5 andere Fragen prassen gerade auf dich ein und Du musst die nächste Entscheidung treffen. Geht das jetzt für den Ton? Geht es nicht? Ja, wir nehmen die Wiese beim Wasserfall, man hört ihn zwar, aber das Wasser hat so etwas frisches, kühles, lebendiges, und auch elementares. Hör noch mal kurz hin, aber ja, wenn man den Bach nicht sieht, erzählt er sich im Ton.

Worauf sollst Du Dich als RegisseurIn verlassen, als auf Deine Ohren... wenns um den Ton geht?

Du verlässt Dich bei den Bildern auch auf Deine Augen, oder?

Nein, nicht wirklich: Du weißt, dass natürliches Sehen mit beiden Augen einen ganz anderen Eindruck ergibt, als der Blick durch ein Kameraobjektiv. Darauf reagierst Du als RegiesseurIn. Und stattest Dich mit Hilfsmitteln aus. Es ist der Blick durch den Motivsucher, auf den Monitor, auf die Videoausspiegelung der zählt.

Aber ist das beim Ton auch so? Da gibt es keine Brennweiten, keine Unschärfe und auch keinen "Tonausschnitt", im Gegenteil: jedes Mikrofon, auch Richtmikrofone, „hören“ immer Geräusche aus allen Richtungen, genauso wie das menschliche Ohr.

Also kann man sich bei der Beurteilung der Töne auf seine Ohren verlassen?

Theoretisch: Ja! Alles, was Du mit Deinen Ohren hören kannst, hat eine gute Chance auch auf Deiner Tonspur vorzukommen. Aber das ist gerade das Problem: Vieles können wir zwar hören, wir wollen es aber nicht. Und das hat seinen guten Grund:

Anders als die Augen kann man die Ohren nicht einfach verschließen. Man kann auch wegschauen, aber es ist physisch nicht möglich, wegzuhören. Alle hörbaren Geräusche finden immer den Weg zu unserem Trommelfell. Vor dem Sammelsurium an Geräuschvielfalt gibt es kein Entkommen. Und es gibt in unseren Hörgewohnheiten keinen harten Schnitt. Und - noch schlimmer - von dem täglichen Geräuschmüll gehen uns 99% definitv nichts an. Wie halten wir das im täglichen Leben nur aus?

Wir filtern es einfach weg!

das haben wir gelernt, langsam und sehr aufwändig, im Alter von 0-3 Jahren. Jede/r von uns hat in jener Zeit, zugleich mit dem Spracherwerb, ein funktionierendes akustisches Filtersystem entwickelt, das eine beachtliche Anzahl an akustischen Reizen zurückhält, damit sie keinen Eingang in die bewusste Wahrnehmung finden müssen. Auf diese Weise wird unser kognitives Potential geschont und für überlebenswichtige (oder lustvolle) Wahrnehmung und deren Interpretation freigehalten. Mit anderen Worten: Jede/r von uns leistet praktisch jederzeit psychoakustische Sortier-Arbeit. Wir misten andauernd 90-99% der Geräusch-Informationen als UNWICHTIG aus und BEMERKEN sie dadurch nicht mehr, so laut und drängend sie auch immer daherkommen.

Wenn wir ein Bild aus der Computerwelt bemühen, könnten wir sagen, dass wir uns mit unseren "Filteralgorithmen" den Rest der Welt leise „rechnen“. Und damit die Sprachverständlichkeit in der Kommunikation immens forcieren.

Dieses mit großem Aufwand erlernte Filterprogramm nagt aber auch an unseren Ressourcen: Die Anstrengung, hörbare Dinge nicht wahrnehmen zu müssen ist durchaus ein aktiver Prozess, den wir zwar nicht bewusst erleben, der aber alle Menschen (in unterschiedlichem Maß) belastet:
Hast Du auf einem Filmset schon mal das kollektive Aufatmen gespürt, wenn das Aggregat einer Scherenbühne plötzlich abgeschaltet wird? 30 Menschen werden momentan von der Arbeit befreit, den Motorenbrumm aktiv zu ignorieren.

Und hier kommt der kleine, aber wesentlichen Unterschied zwischen Deiner akustischen Wahrnehmung auf einem Filmset und dem dort aufgenommenen Ton:

Filmton kann nicht mit psychoakustischen Mitteln gefiltert werden

Unsere psychoakustischen Filter„Algorithmen“ basieren auf zeitlicher und räumlicher Wahrnehmung. Wenn wir beispielsweise das Geräusch der Scherenbühne kennen und es sich über lange Zeit hin nicht verändert, haben wir gelernt, dass es aktiv ignoriert werden darf. Aber wie ist das bei einem beim Filmschnitt, wenn sich die Hintergrundgeräusche alle 4 Sekunden ändern?

Unsere Wahrnehmung ist aber noch viel selektiver und fährt dazu mit beeindruckender "Technik" auf. Wenn ein Geräusch nämlich nicht aus der Richtung und Entfernung kommt, die uns interessiert (nämlich zum Beispiel dem Mund unseres Gesprächspartners), verbannen wir es als „störendes Element“ aus unserer Wahrnehmung.

Wir verlassen uns dabei auf die langjährige Erfahrung unseres Gehörs, durch Laufzeitunterschiede und minimale Frequenzabweichungen beim Auftreffen auf unsere beiden Trommelfelle präzise Aussagen zur Entfernung und Richtung einer Schallquelle treffen zu können. Und können damit sehr effizient "wichtige" von "irrelevaten" Schallereignissen unterscheiden. Die irrelevanten hören wir zwar, aber wir nehmen sie dank unserer räumlichen, mit der optischen Wahrnehmung korrelierten Filter nicht wahr. Ein Beispiel: Mein Mikrofon empfängt das Knarzen des Parkettbodens mit einem 10 x lauteren (!) Pegel, als die Worte, die sich zwei Leute im Gehen zuwerfen. Als lebenslang geschulte Hörer wissen wir, dass ein Parkettboden knarrt, dass dieses Knarzen aber keinerlei Bedeutung für unsere Lebenswirklichkeit hat. Wir nehmen wahr, dass die knarzenden Schritte aus geringfügig anderen Richtungen als die Stimmen unserer Protagonisten kommen, und sind in der Folge bereit, die „uninteressanten“ Knarr-Geräusche aus „unwichtigen“ Richtungen aktiv aus unserer bewussten Wahrnehmung auszufiltern, um uns voll auf das sinnstiftende Verstehen der Worte, der Zwischentöne und Stimmungsanteile der menschlichen Stimmen zu konzentrieren. Das funktioniert live vor Ort ausgezeichnet. Wäre es nicht der Fall, hätten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Wien ganz sicher keine Fischgrät-Parkettböden durchgesetzt. Aber im Film?

Im Film kommen alle Geräusche aus ein und dem selben Lautsprecher.

Deshalb sind wir aufgrund der punktförmigen Ton-Wiedergabe nicht mehr in der Lage, routiniert nach Richtung und Entfernung zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ zu unterscheiden. Der Dialog der zwei Menschen und das Knarzen ihrer Schritte sind für unser Gehör nicht mehr sinnvoll zu trennen, wir erleben das laute Knarren als störend und sind genervt, weil sinnstiftendes Zuhören zur anstrengenden Herausforderung wird.

Fazit: Unsere super psychoakustischen Filter sind beim Ton aus der Konserve außer Kraft gesetzt. Wir hören bei Tonaufnahmen wirklich immer alles. Es ist dann in der Aufnahme plötzlich ALLES da, vor allem auch das, was wir nicht gehört haben, weil es uns eh nur gestört hat.

Die schlechte Nachricht: unser psychoakustischer Hör-Apparat ist nicht für Kamerabilder und Lautsprecherton eingerichtet.

Wenn Du also die akustischen Gegebenheiten am Set beurteilen willst, musst du erst willentlich für einen Moment Deine psychoakustischen Filter ausser Kraft setzen. Das ist nicht weiter schwer, das Problem besteht eher darin, sich im entscheidenden Moment daran zu erinnern. Man sollte es aber tun, wenn man eine Situation akustisch bewertet (kann man hier drehen? War das jetzt gut? ...) und danach Entscheidungen trifft.

Moment Moment!

...kann man am Computer nicht unsere psychoakustischen Filter simulieren und die störenden Nebengeräusche tatsächlich einfach wegfiltern?

Eindeutig: Jein!

Es geht (noch?) nicht in der Präzision und Erfahrung, mit der unser Gehirn es kann. Man darf sich das so vorstellen: Der Prozess steckt derzeit in den Babypatschen, denn „Kinderschuhe“ wären übertrieben. Aber die Richtung ist klar: mit jedem neuen release von „Izotope Rx“, "Waves“ oder „Cedar“ schaffen meine Freunde in der Postproduktion neue atemberaubende Kunststücke, die ich vor wenigen Jahren ins Reich der Phantasie verbannt hätte. Diese Programme führen dazu, dass ich bei gleichbleibenden, relativ leisen und von der menschlichen Stimme deutlich unterschiedlichen Hintergrundgeräuschen wie z.b dem Surren einer Klimaanlage heute am Set deutlich ruhiger bleibe, als noch vor etwa 3 Jahren. Mit ein bisschen Aufwand können solche Geräusche tatsächlich so weit abgesenkt werden, dass sie trotz schneller Tonschnitte in der Wahrnehmung in den Hintergrund treten. 

Das Problem heute (2019) besteht jedoch darin, dass für komplexere Aufgaben nach wie vor die Filtermodule in einer sinnvollen Abfolge zu verschachtelten Prozessen kaskadiert werden müssen und die Parameter jedes einzelnen Filters in jeder einzelnen Situation auf Grundlage der Erfahrung des Soundeditors neu angepasst werden müssen. Da diese „Situationen“ oft nur Sekundenbruchteile lang dauern, ist der Arbeitsaufwand (= Kosten) immens und rechtfertigt nur in Ausnahmefällen den Aufwand, wirklich komplexe Filteranwendungen über längere Zeiträume zur Anwendung zu bringen, so wie unser Gehirn das in jeder Sekunde spielend schafft. Nicht zu reden davon, dass unser Gehirn nicht verstandene Sprachanteile automatisch ergänzt und dass zwischen "rudimentärer Sprachverständlichkeit" und "gut aufgenommener Sprache mit filterbaren Nebengeräuschen" ein großer Unterschied besteht.

Man sieht, ich verteidige meinen Arbeitsplatz:

Tonleute am Set haben den Job, all die störenden Geräusche vor der Aufnahme zu beseitigen, damit der Originalton sauber und bearbeitbar bleibt.
Stellvertretend für die späteren ZuhörerInnen setzen wir bewusst unsere psychoakustischen Filter außer Kraft und hören auf ALLE Töne, die am Set vorhanden sind. Kopfhörer und Mikrofone lassen uns die akustische Umgebung so erleben, wie sie später wiedergegeben wird. Mithilfe unserer Erfahrung am Set und unserem technischen Gerät nehmen wir bei der Aufnahme eine Gewichtung der Töne vor, damit nach einer aufwändigen Postproduktion der fertiggestellte Film wieder annähernd so klingen kann, wie es unseren Hörgewohnheiten entspricht.

Tonaufnahmen klingen anders, als die eigene Hörerfahrung

Du kannst als RegisseurIn wesentlich zum Gelingen Deines Originaltons beitragen, wenn Dir bewusst ist, dass sich viele „natürliche“ Sounds (wie zum Beispiel der Fahrtwind im Auto) bei der Wiedergabe über Lautsprecher in unangenehme Störgeräusche verwandeln, die Du im realen Leben nicht wahrnimmst, weil Du sie aktiv wegfilterst.

Mit der Entscheidung über die akustischen Gegebenheiten beim Dreh übernimmst Du Verantwortung für den Klang Deines Films. Es nützt Deinem Ton, wenn Du kurz Deine Akustikfilter abschaltest, bevor du eine tonrelevante Entscheidung triffst. Im Einzelfall hilft ein Blick zu Deinem/r TonmeisterIn. Ist er oder sie nicht greifbar, mußt Du abwägen, wie wichtig Dir in diesem Moment der Originalton ist.

Kommen wir auf die Wiese mit dem rauschenden Bach zurück: Unser Gehirn assoziiert mit dem BILD von plätscherndem Wasser "Frische", "Kühle" oder "Lebendigkeit". Das Rauschen des Baches im TON klingt wie "schschschsch", bei einer OFF-Bewegung des Mikros vielleicht auch ab und zu wie "chchchchch". Ein kurzes Schließen der Augen mit aufmerksamem Hören wird bestätigen, dass der KLANG eines rauschend Baches einem technischen "Rosa Rauschen" sehr nahe kommt und losgelöst vom Bildeindruck als massives Störgeräusch wahrgenommen wird. Und da dieses sehr viele Frequenzanteile und ein völlig zufälliges Verteilungsmuster hat, ist es auch für sehr ausgereifte Algorithmen schwierig zu filtern.

Was passiert wenn ich leise spreche... kann man das nicht einfach lauter drehen und meine Stimme wirkt satt und klar, ohne dass ich auf die Tube drücken muss und Gefahr laufe zu outrieren?


Die kurze Antwort:

Ja, wenn alles, was das Mikro „hört“ ganz allein Deine Stimme ist.

Nein, wenn es andere Geräusche rundherum auch gibt, weil damit nicht nur Deine Stimme, sondern alle anderen Geräusche rundherum genauso lauter gemacht werden und das an den Verhältnissen zwischen Deiner leisen Stimme und den lauten Geräuschen erstmal nichts ändert.

Die lange Antwort ist differenzierter und gibt uns schon ein paar Handlungsspielräume:

Bei der Filmaufnahme leise zu sprechen gibt vielen SchauspielerInnen Gelegenheit, „bei sich zu bleiben“ und „natürlich“ zu wirken. Es nimmt manchmal sogar die Angst zu outrieren. Denn leiser ist intimer, man ist näher beim aktuellen Körpergefühl, muss das Zwerchfell nicht anspannen und das überträgt sich: Die Intimität ist authentischer als das laute Bühnensprech. Schließlich ist es einer der wenigen Vorteile des Films, dass man vor der Kamera „klein“ und „leise“ spielen, jedoch akustisch und optisch sehr präsent sein kann.

Auch ich verstehe diese Überlegung. Punkt. Ich respektiere sie und unterstütze sie nach Möglichkeit, das heißt: wo immer ich irgendwie kann! Ich sehe es als wesentlichen Teil meines Berufs, Dir aus den oben erwähnten Gründen „leises Sprechen“ zu ermöglichen. Dennoch, es funktioniert nicht immer. Lies dazu einige Fakten und Erfahrungen:

Leise sprechen, die erste:

Mikrofone „hören“ grundsätzlich Töne aus allen Richtungen. Es gibt Richtmikrofone, die aufgrund ihrer Bauweise eine bestimmte Richtung des einfallenden Schalls bevorzugen, aber auch sie wandeln Schallwellen, die aus anderen Richtungen auf ihre Membran treffen, in die gleichen elektrische Impulse um wie den Ton Deiner Stimme, nur etwas gedämpft und akustisch ein bisschen verfärbt.

Die einzige Möglichkeit, Deine Stimme im Verhältnis zu den Umgebungsgeräuschen „laut“ zu machen, besteht darin, ein Mikrofon so nah an Deinen Mund zu bringen, dass die lauten Geräusche in der Umgebung einfach durch die größere Distanz vom Mikrofon in den Hintergrund treten. Das ist genau so, wie wenn sich jemand zu dir neigt und mit dem Ohr ganz nah an Deinen Mund kommt.

Auch aus diesem Grund hat es sich in den letzten Jahren eingebürgert, dass jede/r SchauspielerIn bei Filmaufnahmen ein Funkmikro an der Kleidung oder am Körper trägt. Damit  erhalte ich mir die Chance, auch bei lauterer Umgebung Deine Stimme klarer und „näher“ aufzunehmen, als das mit einem „Angelmikrofon“ bedingt durch den Bildausschnitt der Kamera möglich wäre.

Das sichert mir (und Dir!) mal gute Karten im Bemühen um Intimität. Leider wiederum mit ein paar Einschränkungen:

  • Am Körper getragene Mikrofone nehmen wie alle anderen Mikros Geräusche völlig ungewichtet auf. Für das Mikro macht es keinen Unterschied, ob es sich um Deine Stimme oder das Reiben Deiner Seidenbluse an Deinem Blazer handelt. Laut geht vor Leise und Nah vor Entfernt. Also sind Reibegeräusche (die Bluse) in 3 cm Entfernung vom  Mikro im Verhältnis 10x lauter als Deine Stimme, die es immerhin 30 cm weit schaffen muss. Wenn Deine Stimme 10x so laut ist wie Dein Blazer (das ist realistisch), höre ich beide gleich laut (die zwei „matchen“ sich dann auf Augenhöhe, stell Dir mal vor, wie das klingt!)

    Es braucht eine Menge Erfahrung, ein Ansteckmikrofon so anzubringen, dass es keine Kratz-, Klopf- oder Schabegeräusche der Kleidung überträgt. Während der Probe beobachte ich Deine Bewegungen und Deine Körperhaltung, um zu sehen, wie Die einzelnen Teile Deiner Kleidung „fallen“ und wo der beste Platz für Dein Ansteckmikro sein wird. Und darum „baue“ ich nach Möglichkeit Dein Mikro erst ein, wenn ich eine Probe gesehen habe.
  • Schall braucht Luft um sich ungehindert ausbreiten zu können. Unter Deiner Kleidung nah an Deinem Körper gibt es allerlei Miniaturräume aus textilen Schichten, die nicht Luft sind und den Schall auf jeweils verschiedene Arten ablenken, filtern, reflektieren und damit seinen Klang abschwächen und verändern. Je mehr textile Schichten sich zwischen Deinem Mund und Deinem Mikro befinden, desto dumpfer und unnatürlicher wird der Klang Deiner Stimme, wobei es bei geringer Schallenergie überhaupt nur ein paar wenige Frequenzen durch die Schichten Deiner Kleidung schaffen. Aus diesem Grund bringe ich Dein Ansteckmikro so weit außen und so frei wie möglich an, gerade so, dass es von der Kamera nicht gesehen werden kann.
  • In diesem Sinn stell Dir vor, dass Du Dir beim Sprechen eine Bettdecke vor den Mund hältst. Ähnlich „hört“ ein Ansteckmikro Deine Stimme , wenn es sich unter Deiner harmlosen leichten Steppjacke befindet, die Du beim „einbauen“ bzw „verkabeln“noch nicht anhattest.
    Du hilfst mir (und Dir!), wenn Du zur Mikrofonmontage in deiner fertigen Kleidung kommst, das heißt, mit Jacke, Schal, Krawatte, Halstuch, Mütze und auch Handtasche, sofern der Riemen Deiner Tasche quer über Deine Brust verläuft. Nur dann kann ich qualifiziert entscheiden wo das Mikro Deine Stimme einerseits halbwegs raschelfrei, andererseits „luftig“ genug aufnehmen wird. Da immer die obersten Schichten zählen, sind die Accessoires besonders wichtig, der Schal und auch Deine Halskette, die möglicherweise genau dort baumeln wird, wo ich einen ruhigen luftigen Platz für Dein Ansteckmikro gefunden habe.

Leise Sprechen, die Zweite:

Im täglichen Leben sprechen die meisten Menschen intuitiv so laut, dass sie trotz des herrschenden Umgebungslärms verstanden werden können. Wir haben als Kleinkinder lange daran gearbeitet unsere Lautstärke optimal an die Gegebenheiten anzupassen, uns immer wieder ausprobiert, leise weinend oder auch sehr laut am Fliesenboden des Supermarkts. Aufgrund dieser Erfahrung steigern wir im Verkehr, in der Menschenmenge oder bei starkem Wind unsere Lautstärke; ist die Umgebung ruhig, dosieren wir den Pegel unserer Stimme intuitiv nach unten. Wer nebeneinander im Schlafzimmer im Bett liegt, wird leise reden (wenn nicht die momentane Emotion das Gegenteil bedingt). Wer nebeneinander auf einer belebten Strasse geht wo es zb noch windig ist, wird sehr laut werden (müssen), um eben noch verstanden zu werden. Im täglichen Leben können wir mühelos (und unbewusst) genau so laut sein, dass wir von anderen wahrgenommen werden ohne sie über die Maßen zu stören.

Zur Situation vor der Kamera habe ich dazu folgende Erfahrung: Manche SchauspielerInnen haben möglicherweise irgendwann die Entscheidung getroffen, dass „leiser“ = „besser“ ist. Wenn ich Euch „verkable“, also ein Funkmikrofon an Eurer Kleidung anbringe, kann ich jederzeit hören was Ihr sagt. Also nicht nur innerhalb der Szene, sondern immer. Eh klar. Mein Tongerät zeigt mir dann auch den momentanen Pegel Eurer Stimme an. Meine Erfahrung ist, dass Schauspieler, die in der Szene grundsätzlich leise sprechen, im alltäglichen Plauderton vor und nach der Szene gleich laut sind, wie alle anderen. Klar, Ihr wollt ja verstanden werden und an der Kommunikation teilhaben. Wenn grundsätzlich leise sprechende Schauspieler dann „spielen“, senken sie aber dann den Pegel ihrer Stimme ab, und zwar oft auf ein Maß, das im realen Leben vielleicht schon  gar nicht mehr funktionieren würde.

Denn leise zu sprechen geht grundsätzlich nur dann, wenn es rundherum ruhig ist, wenn die Gesprächspartner 100% aufmerksam sind und wenn sie räumlich nah sind (so dass man sich zb auch berühren könnte). In allen anderen Fällen müssen Deine PartnerInnen auf ihre Erinnerung an den geschriebenen Text zurückgreifen, um die Reaktion zu zeigen, die jetzt eigentlich angemessen wäre. Abgesehen davon, dass ich Deine Stimme nicht sauber aufnehmen kann, haben Sie auch keine Möglichkeit, intuitiv auf das zu reagieren, was Du sagst.

In den meisten Fällen gilt für mich die Faustregel: So lang Du in einer natürlichen, der Situation angemessenen Lautstärke sprichst, habe ich unter Ausnutzung aller Kniffe und Tricks meist auch eine gute Möglichkeit, Deine Stimme sauber aufzunehmen. Du musst also selten extra für den Ton lauter sprechen, als Du das im Normalfall tun würdest. Aber bitte auch nicht leiser, als es Dein natürlicher Impuls wäre, wenn die Kamera NICHT läuft. Sich beim Sprechen ungeachtet der realen Situation ins Leise-Sein fallen zu lassen, stellt den Originalton leider oft vor ein unüberwindbares Hindernis, da die Umgebungsgeräusche ja genauso laut bleiben und also im Verhältnis zu Deiner Stimme die  Oberhand behalten.